Marietta Kyanos* kündigt ein virtuelles Interview vom „blauen Sofa“ auf der Leipziger Buchmesse an. Verbunden sind Deutschlandfunk Kultur, 3sat, Bertelsmann und ZDF. Frau Azzurra** im Gespräch mit Herrn Prof. Dr. Zarqo*** über seine neueste Übersetzung, die Wellen geschlagen hat und in bestimmten christlichen Kreisen heftig diskutiert wird. Sie sollten wissen, Herr Prof. Zarqo beschäftigt sich mit alten Handschriften, besonders aus dem syro-aramäischen Sprachraum.
Frau Azzurra: Herzlich Willkommen, Herr Prof. Zarqo. Es ist schon erstaunlich, dass Ihre Übersetzung der Evangelien so umstritten ist. Viele denken, im Umfeld des Christentums gäbe es gar nichts Neues mehr zu entdecken. Und doch haben Sie eine Übersetzung der Evangelien vorgelegt, die von manchen als revolutionär betrachtet wird, da sie das gesamte Bibelverständnis des Christentums ins Wanken bringen könnte. Erklären Sie unseren Zuschauern doch einmal, warum Ihre Übersetzung so brisant ist.
Prof. Zarqo: Nun ja, meine Arbeit geht von der Hypothese aus, dass Jesus ein aramäisch-sprachiger Jude war. Die großen Kirchen bei uns in Deutschland berufen sich bei ihren Übersetzungen des Neuen Testaments auf den griechischen Text. Das machte mich stutzig. Ich forschte nach aramäischen Quellen und stieß auf die Peschitta, die „einfache“, eine „leicht verständliche“ aramäische Fassung, die spätestens aus dem 5. Jahrhundert stammt, wahrscheinlich aber viel früher entstanden ist. Und da fand ich manches Detail, das mir klar machte, wie viele Übersetzungsfehler und Auslassungen im griechische Text zu finden sind, der unseren üblichen Bibel-Ausgaben zugrunde liegt.
Frau Azzurra: Können Sie uns das etwas veranschaulichen, etwa an einem Beispiel.
Prof Zarqo: Ganz eklatant ist das Jesuswort von dem Kamel, das eher durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in den Himmel kommt. Meine eigene Übersetzung lautet ganz anders: „Eher geht ein Seil durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher Gottes Ratschlag folgt.“ Das hört sich doch ein wenig verschieden an. Hintergrund ist die Tatsache, dass das Aramäische viel weniger Begriffe kennt als etwa das Deutsche. Deshalb hat ein Begriff oft viele Bedeutungen. Das Wort gamlo bedeutet zwar „Kamel“, aber genau so „Seil“. Im Zusammenhang mit einem „Nadelöhr“ ist eigentlich nur „Seil“ sinnvoll. Aber der Übersetzer hatte diese Doppeldeutigkeit nicht vor Augen. So kam es zu dieser Übertragung, die manch einer sogar als Beweis des Humors ansieht, den Jesus gehabt haben soll. Naja.
Frau Azzurra: Vielleicht noch ein Beispiel?
Prof. Zarqo: Ja, möglicherweise ist eine Geschichte aus dem Matthäusevangelium interessant. Es geht da um eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt, und sich von hinten an Jesus heranschleicht und den Saum seines blauen Übergewandes berührt. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand anfasse, werde ich bereits geheilt sein. Jesus wandte sich um, und als er sie sah, sagte er: Fasse Mut, dein Vertrauen hat dich geheilt und dein Leben gerettet. Und von da an war die Frau geheilt. (Mt 9, 20-22)
Frau Azzurra: Dass Jesus ein blaues Gewand getragen haben soll, ist mir neu. Das habe ich noch nie gehört.
Prof. Zarqo: Der Blick auf die Zeitgeschichte verdeutlicht: Den Saum des Gewandes eines heiligen Mannes zu berühren, hatte nach altorientalischer Vorstellung heilende Kraft. Und nach Num 15, 38-40 wird der Farbe blau eine besondere Bedeutung zugemessen, so dass die Aramäer Jesus stets ganz selbstverständlich mit blauem Obergewand darstellen. Von Blau geht dem entsprechend eine heilende Kraft aus. Ruhe, Zufriedenheit, Harmonie, Spiritualität, Harmonie und vor allem Heilung sind mit Blau verbunden. Es gibt viele Bilder in der Tradition der Aramäer, auf denen Jesus blau trägt.
Frau Azzurra: Ist Jesus dann ein Wunderheiler wie viele, die es zu seiner Zeit gab?
Prof. Zarqo: Nun, Jesus ist sicher auch ein Heilkundiger, wie es manche zu seiner Zeit gab. Von sich selbst sagt Jesus, er sei ein „einfacher Mensch“, der keinen Wert auf irgendeinen Titel legt. So jedenfalls kann man den aramäischen Begriff „Menschensohn“ interpretieren. Natürlich gibt es auch an einzelnen Stellen Anklänge, die sich auf das Buch Daniel beziehen … Dort ist von einem Menschen die Rede, der „auf den Wolken des Himmels“ kommen wird. Dabei handelt es sich um eine aramäische Redewendung, die besagt, dass eine Mission, ein Auftrag, erfolgreich zu Ende geführt wird; Wolken standen für das Höchste, das man sich vorstellen konnte. Es geht demnach darum zu zeigen, dass Jesu Verkündigung und seine Botschaft auf der ganzen Welt triumphieren werden.
Charakteristisch für die Übersetzung ist es, dass solche Idiome identifiziert werden und das Poetische der Worte Jesu zur Geltung gebracht wird.
Das Christentum kann geradezu als Dreistromland beschrieben werden, das sich aus dem Hauptstrom des lateinischen Westens, dem des griechischen Ostens und dem des oft vergessenen syrischen Orients zusammensetzt. Das Christentum bekommt man also nur ganz in den Blick, wenn man es als Dreistromland überschaut. Nur ganz wenige Kenner wissen, dass im Osten noch ein anderer, urtümlicher Strom von ganz eigener Art fließe: die syrische Tradition. Auffallend ist, dass die großen syrischen Theologen begnadete Dichter sind, allen voran Ephräm der Syrer (306-373). Wie es die Bibel tut, nähern sie sich in Bildern und Gleichnissen, mit Paradoxien und Parallelismen, immer aber mit großer Ehrfurcht und heiliger Scheu dem verborgenen Geheimnis, von dem jede Blume und jede Ähre, der Vogel in den Wolken und der Fisch im Wasser, das Brot auf dem Altar und der Wein im Kelch künden. Nicht mit philosophischem Scharfsinn, sondern mit dem Reichtum von Metaphern vermitteln sie eine Ahnung von dem Guten, der die Menschen liebt.
Frau Azzurra: Ein Beispiel für das Poetische? Vielleicht aus Ihrer Übersetzung?
Prof. Zarqo: Mir gefällt etwa das folgende Jesus-Wort ganz gut:
Die Füchse haben Höhlen
und die Vögel des Himmels haben ein schützendes Nest.
Dieser gewöhnliche Mensch,
gemeint bin ich selbst,
hat aber gar keinen Ort,
noch nicht einmal,
um sich zum Schlafen hinzulegen. (Mt 8,20)
Was hier sehr schön herauskommt: Zuerst geht es um die Höhlen im Plural, dann um ein Nest im Singular, schließlich um die Negation eines einzigen Ortes. Das ist doch ganz geschickt mit einer Steigerung komponiert. Aus dem griechischen Text kann man das nicht so entnehmen.
Das zuletzt genannte Idiom von „keinem Ort zum Schlafen“ drückt nebenbei aus: „Ich bin ein armer Mann, ein Mann ohne Heim.“ Aber es ist literarisch nicht so platt ausgesprochen.
Frau Azzurra: Könnten Sie nochmals auf die Sprache eingehen. Was bedeutet es eigentlich sonst noch, dass das Aramäische nur wenige Begriffe besitzt, die verschiedenste Bedeutungen haben können?
Prof. Zarqo: Am Besten ich verdeutliche das an einem Beispiel: Johannes 11,11-14. In der griechischen Fassung heißt es da: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken. Da sagten die Jünger zu ihm: Herr, wenn er schläft, dann wird er gesund werden. Jesus hatte aber von seinem Tod gesprochen, während sie meinten, er spreche von dem gewöhnlichen Schlaf. Darauf sagte ihnen Jesus unverhüllt: Lazarus ist gestorben.
Wie kommt es zu dem Missverständnis der Jünger, Lazarus schlafe nur? Gibt es dafür eine plausible Erklärung? Hören Sie sich meine Übersetzung an:
Lazarus, unser Freund, liegt danieder.
Ich gehe hin, um ihn aufzuwecken.
„Danieder zu liegen“, das bedeutet im Aramäischen: Er hat sich nur hingelegt, um zu schlafen. Es kann aber genauso gut heißen: Er ist bereits tot. Beides ist möglich.
Da sagten die Jünger zu ihm: Unser Mārā, unser Herr und Meister. Wenn er schläft, dann wird er gesund werden. Jesus hatte aber von seinem Tod gesprochen, während sie dachten, er spreche von dem gewöhnlichen Schlaf. Darauf sagte ihnen Jesus ganz eindeutig:
Lazarus ist gestorben.
„Lazarus liegt danieder“: šəḵeḇ – Wurzel mit dem Sinnzentrum: ᵓšḵḇ = sich hinlegen, schlafen, sterben usw.; die gleichzeitige Bedeutung von „schlafen“ und „sterben“ bei diesem aramäischen Begriff macht das folgende in den Versen 12-14 geschilderte Missverständnis des Wortes Jesu von Vers 11 erst möglich. Nur so ist der Duktus des Erzählten zu verstehen. Schließlich präzisiert Jesus das Gemeinte aus dem Spektrum der Bedeutungsmöglichkeiten des aramäischen Begriffs.
Frau Azzurra: Ja, schön! Das macht deutlich, welchen Fortschritt es mit sich bringt, wenn man das Aramäische einbezieht. Eine Frage beschäftigt mich noch. Es gibt da doch in den Evangelien eine Stelle, in der gesagt wird: Wenn dich deine Hand oder dein Fuß zu Fall bringen, dann hau sie ab und wirf sie weg. Mich würde interessieren, wie Sie diese Stelle sehen, Herr Professor?
Prof. Zarqo: Zum Verständnis ist es wichtig zu wissen, dass es sich um eine aramäische Redewendung handelt, die keinesfalls wörtlich gemeint ist. „Hacke deine Hand ab von meinem Weingarten!“, meint: Halte dich fern von meinen Trauben. „Seine Hand ist zu lang“, charakterisiert jemanden als Dieb. „Verkürze deine Hand“, meint: Stiehl nicht. Die Hand steht für die physische Ausführung eines Gedankens. Ich habe diese Stelle deshalb folgendermaßen übertragen:
Wenn du daran denkst,
etwas Unrechtes zu tun,
halte inne.
Dann lass nicht zu,
es in die Tat
umzusetzen. (Mt 18,8)
Das entspricht dem orientalischen Verständnis. Bei der Übertragung ins Griechische hat man den Text wortwörtlich verstanden. Daraus resultieren die meisten Missverständnisse.
Frau Azzurra: Herr Professor, solche Gedanken sind also in Ihrer Übersetzung zu finden. Aber das heißt doch nicht, dass Jesus aus den himmlischen Sphären verbannt wäre? Oder?
Prof. Zarqo: Das stimmt natürlich. Himmel und Erde, beides kann man zusammenführen. Ich finde, das wird schon deutlich, wenn man sich etwa ein zweites Bild anschaut, auf dem Jesus in seiner Göttlichkeit dargestellt wird. Auch da trägt er ein blaues Obergewand, allerdings mit goldenfarbigem Saum. Schon die Farben der Kleidung machen deutlich, dass es sich um dieselbe Gestalt handelt.
Frau Azzurra: Ist ja interessant. Wie sind Sie übrigens an dieses Bild gekommen? Es entspricht ja nicht ganz unserem westlichen Geschmack, dürfte mancher denken.
Prof. Zarqo: Vor dem Krieg in Syrien habe ich eine Rundreise gemacht und bin auch in die syrisch-orthodoxe Kirche in Sadad nahe Homs gekommen. Dort habe ich das Foto aufgenommen. Ich denke, heute dürfte alles in Schutt und Asche liegen.
Frau Azzurra: Noch kurz dazu: Können Sie uns sagen, was die aramäischen Worte in dem Buch auf der Ikone bedeuten, das Jesus auf seiner linken Hand hält?
Prof. Zarqo: Die Übersetzung lautet:
„Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis untergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12).
Und: „Kommt alle zu mir, die ihr völlig ausgelaugt und schwer belastet seid, ich will euch zur Ruhe kommen lassen“ (Mt 11,28).
Da haben wir wieder diese heilenden, wohltuenden Aspekte, die denen zugesagt werden, die an Jesus glauben. Man könnte diese geradezu als „blaue“ Aspekte charakterisieren.
Frau Azzurra: Ein schönes Schlusswort! Danke, Herr Prof. Zarqo, für diese anregenden Gedanken. Wann ist die Übersetzung übrigens herausgekommen?
Prof. Zarqo: Im Dezember ’19, Verlag Hans-Jürgen Maurer, Frankfurt. Man kann ja Weiteres googeln: „Peschitta“, „Evangelien“ müssten als Stichworte reichen.
Marietta Kyanos* übernimmt das Mikrofon und leitet geschickt zum nächsten Interview vom „blauen Sofa“ auf der Leipziger Buchmesse über.
* = „blau“ (griechisch) ** = „blau“ (italienisch) *** = „blau“ (aramäisch)