Essad Beys Heftromane
Manuela und Liebe und Erdöl
Eine überraschende Entdeckung
von Hans-Jürgen Maurer
Als 1934 in dem polnischen Verlag Republika in Łodz die beiden Heftromane von Essad Bey erschienen, hatte dieser bereits eine beachtliche Zahl an Publikationen vorzuweisen. Zwischen 1926, (d.h. etwa ab seinem 21. Lebensjahr) und 1933 verfasste Essad Bey über 160 Beiträge für Willy Haas’ renommierte Literaturzeitschrift Die literarische Welt. Sein erstes eigenes Buch erschien im Winter 1929/1930, d.h. in seinem 24. Lebensjahr: die satirische Quasi-Autobiografie Öl und Blut im Orient, in der er von seiner Kindheit in Baku und seiner abenteuerlichen Flucht vor den Bolschewiken erzählt. Bis zum Erscheinen der beiden Heftromane 1934 folgten acht weitere Bücher: unter anderem die Biografien Stalin und Mohammed, zwei Bücher über den Kaukasus, drei über Russland und eines über Erdöl, Flüssiges Gold. Das positioniert die beiden Heftromane ungefähr auf halber Strecke zwischen Öl und Blut im Orient und dem zeitlosen Meisterwerk Ali und Nino, das 1937 unter dem Pseudonym Kurban Said veröffentlicht wurde.
Über Zeitpunkt und Umstände der Wiederentdeckung von Manuela und Liebe und Erdöl ist nichts bekannt. Es kann aber vermutet werden, dass Professor Gerhard Höpp († 2003) vom Berliner Zentrum Moderner Orient, der Essad Bey bereits seit den frühen 1990er-Jahren auf der Spur war, die Romane im Rahmen einer weltweiten Routinesuche in Bibliothekskatalogen entdeckte. Bis dahin war von der Existenz der beiden Romane nichts bekannt. Bis heute ist auch kein einziger Hinweis auf die Manuskripte, Verhandlungen oder Korrespondenz etc. aufgetaucht – außer möglicherweise ein Nebensatz in der Autobiografie von Karl Frucht2, dem Geschäftspartner von Hertha Pauli: „Wir hatten einige seiner abenteuerlichen Kurzgeschichten mit Erfolg vertrieben“. Da bislang nichts von weiteren Abenteuergeschichten Essad Beys bekannt ist, kann vermutet werden, dass Frucht von den beiden Heftromanen sprach.
Diese beiden einfach strukturierten und erzählten Geschichten wollen sich in Anbetracht von Essad Beys längst bewiesener literarischer Kunstfertigkeit nicht unbedingt nahtlos in sein beeindruckendes Gesamtwerk einfügen – jedenfalls nicht auf den ersten Blick.
Und dennoch sind diese beiden »Groschenhefte« unzweifelhaft echte »Essad Beys«. Denn ein Essad-Bey-Buch ist ein Essad-Bey-Buch, weil darin die großen Lebensthemen des Autors selbst vorkommen: Erdöl, Hochfinanz, Kaukasus, Revolution, Flucht, Bolschewismus. Zudem trägt die Handlung von Liebe und Erdölautobiografische Züge – jene Erfahrungen, die er selbst als Flüchtender machen musste. Darüber hinaus lässt Essad Bey Personen der Zeitgeschichte auftreten und beschreibt deren Handlungen, die auch schon Thema in seinen Werken Das weiße Russland (1932) und Flüssiges Gold (1933) waren. Diese erleben unter verändertem Namen ihre dramatisierten Geschichten in leicht abgewandelten Zusammenhängen.
In Manuela greift Essad Bey auf eine Räubergeschichte zurück, die er bereits 1930 in Zwölf Geheimnisse im Kaukasus erzählt hatte – nur, dass er sie jetzt in den Dienst der portugiesischen Revolution stellt. Weiterhin verarbeitet Essad Bey in Manuela zwei große Finanzskandale von 1925 und 1929/30, die er geschickt miteinander kombiniert.
Allein diese Bezüge zu weltgeschichtlichen Ereignissen, in die Essad Bey seine Protagonisten stellt, heben die beiden Geschichten über gewöhnliche Heftromane hinaus. Dies zu betonen ist wichtig, denn sie wurden kritisiert, »simpel und primitiv« zu sein, und dass ihre Handlung »billig und sensationalistisch« sei, und dass sich seine Helden »in der dunklen Welt von Intrige, Verführung, Erpressung und Rache bewegen, um zu Geld und Macht zu gelangen«.3
Vergessen wir nicht, was diese beiden Romane sind: Groschenhefte, die für jene wöchentliche Serie in Polen verfasst wurden – und dass sie dennoch wahre Begebenheiten nachzeichnen.
Betrachten wir im Folgenden einige Handlungsdetails.
Manuela
Hintergrund für die Romanhandlung ist Portugal vor dem Militärputsch von 1926, das heißt, in einer Zeit häufig wechselnder Regierungen und politischer Instabilität. Ein paar Revolutionäre machen sich daran, die korrupte Regierung zu stürzen. Nach ihrem waghalsigen Plan haben sie vor, große Mengen legal gedruckter Banknoten in Umlauf zu bringen und so eine Inflation auszulösen, die die Bevölkerung gegen die Regierung aufwiegeln soll. Die Heldin des Romans, eine hübsche junge Frau namens Manuela Letão, unterstützt die Revolutionäre, um ihren Vater, einen ehemaligen General, zu rächen. Mit geschickten, spannend und amüsant beschriebenen Schachzügen gelingt es den Revolutionären tatsächlich, die Londoner Banknotendruckerei davon zu überzeugen, sie seien offizielle portugiesische Gesandte und damit befugt, Banknoten zu ordern. Diese Banknoten werden in aberwitziger (wenn auch nicht sehr glaubwürdiger) Weise in Umlauf gebracht. Zum Beispiel kauft Manuela in Paris literweise teuerstes Parfum ein.
In der Tat führt das in Umlauf bringen der vielen Banknoten den Verfall der portugiesischen Währung und schließlich den Sturz der Regierung herbei.
In dieser Geschichte hat Essad Bey folgende historische Begebenheiten verarbeitet.
Den Banknoten-Skandal, bei dem durch riesige Mengen echten Geldes Portugals Wirtschaft kollabierte, hat es im Jahr 1925 wirklich gegeben. Wie den Protagonisten im Roman, gelingt es dem Privatmann Alves dos Reis (1898–1955), die britische Banknotendruckerei Waterlow & Sons Ltd., bei der die portugiesische Regierung bereits seit vielen Jahren Kunde war, davon zu überzeugen, er sei der offizielle Repräsentant derselben. Er bestellt 200.000 Scheine à 500 Escudos (siehe Abb.). Als diese legal gedruckten Banknoten in Umlauf gebracht wurden, hatte dies eine katastrophale Wirkung auf die portugiesische Wirtschaft, von der sie sich nur schwer erholte. Vor allem der Ansehensverlust von Regierung und Währung war immens.
Im Falle von Alves dos Reis wurde die Druckerei Waterlow & Sons Ltd. zu Entschädigungszahlungen gegenüber Portugal verurteilt und musste infolgedessen Konkurs anmelden. In Manuela jedoch gibt es ob der »edlen« Motive der Helden ein Happy End. Die angeklagte englische Druckerei wird freigesprochen und die Verantwortung Portugal zugeschoben.
Im Gegensatz zu den Motiven der Romanhelden waren die von Alves dos Reis wahrscheinlich persönliche Bereicherung und Machtstreben.4 Offensichtlich hat dos Reis die Auswirkung seines Plans auf die portugiesische Wirtschaft nicht voraussehen können. Doch Essad Beys Romanhelden wissen es besser – kein Wunder, denn Manuela wurde neun Jahre nach dem wirklichen Skandal verfasst. Für die Romanhelden ist es einfach, den Effekt auf Portugals Wirtschaft selbstlos in den Dienst der Revolution zu stellen.
Dieses »gute« Motiv entlehnte Essad Bey einem anderen Geldfälscher-Skandal, der ab 1927 für Schlagzeilen sorgte, der so genannten Tscherwonzen-Affaire.
Das Wort »Tscherwonzen« ist die eingedeutschte Bezeichnung für die sowjetische Währung Tschervonets, die seit dem Zarenreich und bis 1947 in Umlauf war. Revolutionäre Georgier stellten 1927 in Deutschland eine große Menge Tscherwonzen-Blüten her, um diese im sowjetisch verwalteten Kaukasus in Umlauf zu bringen. Ihre Hoffnung war es, dadurch die Sowjetwirtschaft zu untergraben. Es ist denkbar, dass die Revolutionäre durch den dos-Reis-Skandal auf diese Idee gekommen sind. Doch ihr Plan misslang. Es kamen nur relativ wenige Scheine in Umlauf. Der Großteil wurde von der Polizei in einem Frankfurter Lagerhaus entdeckt, bevor sie verschickt werden konnten. Die Fälscher wurden in Deutschland vor Gericht gestellt. Nach dem ersten Einstellen des Prozesses aufgrund der neu erlassenen „Reichsamnestie“ für politische Straftäter im Jahr 1928, gab es aufgrund heftiger Proteste der Sowjetunion 1930 eine Wiederaufnahme und ein Berufungsverfahren, das den Angeklagten Gefängnisstrafen von zwei Jahren bzw. zwei Jahren und 10 Monaten einbrachten.5
Essad Bey hatte an den großen Tscherwonzenfälscher-Prozessen im Januar und Februar 1930 in Berlin-Moabit als Beobachter teilgenommen.6
Wie bereits erwähnt, verlegte Essad Bey für den Roman Manuela eine kaukasische Räubergeschichte nach Portugal, die er bereits 1930 in Zwölf Geheimnisse im Kaukasus6 erzählt hat: Unter einem Vorwand werden alle Polizisten und Soldaten aus der dagestanischen Stadt Kislar gelockt. Derweil raubt eine Räuberbande die Stadt aus, inklusive aller Privathäuser, Banken und dem Postamt. Um eine Verfolgung so lange wie möglich hinauszuzögern, werden alle Einwohner der Stadt splitternackt zurückgelassen. Dieser Raubzug soll von einem gewissen Kamo organisiert worden sein, einem Mitstreiter Stalins, der mit der Beute den in Zürich lebenden Lenin unterstützte.
Diese Episode aus Zwölf Geheimnisse im Kaukasus ist, nebenbei bemerkt, ein Musterbeispiel für Ralf Marschallecks Feststellung: »[Essad Bey] … schafft es immer wieder, Geschichte aus nüchternen Fakten in leidenschaftliches Menschenwerk zurückzuverwandeln, wodurch sie erst verständlich wird – ein sehr sympathisches Verfahren, modern geblieben und in der heutigen Sachbuch-Literatur als ›facts & fiction‹ geläufig …«.7
* * *
Liebe und Erdöl
Die georgische Prinzessin Tamara landet auf ihrer Flucht vor den Bolschewiken, die sie über Konstantinopel und Marseille führt, auf den Straßen von Paris. Der Ohnmacht nahe wird sie in letzter Sekunde von dem schönen Vano aufgefangen, der sich als ihr Landsmann herausstellt. Vano bringt Tamara zu dem alten und geheimnisvollen Armenier Petrossian, der wirtschaftliche Weltmacht besitzt. Petrossian macht Prinzessin Tamara zu einem Instrument des Großkapitals gegen die Bolschewiken, indem er sie mit dem englischen Erdöl-Tycoon Sir Richard King verkuppelt. Sir Richard soll durch seine Liebe zu Tamara motiviert werden, für die Befreiung ihrer kaukasischen Heimat (und damit der dortigen Ölquellen) von den Bolschewiken zu kämpfen.
Hier hat Essad Bey folgende autobiografischen Details sowie Personen und Begebenheiten aus der Weltgeschichte verarbeitet:
Die Hauptperson des Romans, die georgische Prinzessin Tamara Alaschidse, benannte Essad Bey sicherlich nicht nur nach der legendären georgischen Königin (1160–1230), sondern wohl auch nach seiner Lieblingstante Tamara, der jüngeren Schwester seiner Mutter Berta, mit der ihn, bedingt durch den geringen Altersunterschied von zwölf Jahren, ein eher geschwisterliches Verhältnis verband.
Wie Prinzessin Tamara fuhr auch Essad Bey unter denselben politischen Umständen von Batumi nach Konstantinopel – wenn auch nicht einsam auf einem kleinen Segelboot, sondern zusammen mit seinem Vater, dem Bakuer Ölindustriellen Abraham Nussimbaum. Sie legten die Strecke in der ersten Klasse eines Dampfers zurück, auf dem »der Kellner meldet, dass nach Verlassen der georgischen Gewässer alle Preise in Gold zu verstehen sind.«8
Wie für Tamara bedeutete auch für Essad Bey, damals noch Lev Nussimbaum, Konstantinopel ein mehrwöchiger Aufenthalt. Im Gegensatz zu seiner Romanfigur wohnte er im ersten internationalen Luxushotel Konstantinopels, dem Pera Palas, das 1892 für die Passagiere des neuen Orient-Express erbaut worden war. Prinzessin Tamara verkaufte dagegen im Roman Streichhölzer vor den Türen desselben Luxushotels.
In einem einzigen Satz deutet Essad Bey an, was Konstantinopel für Tamara bedeutete – und erzählt dabei von sich selbst: »Für sie war Konstantinopel ein Traum.« In seinem letzten Manuskript beschreibt Essad Bey (bzw. in dem Falle „Kurban Said“) eindringlich, was die Stadt für ihn selbst bedeutet hat: »Ich kann mir kaum noch die Gefühle jenes fremden Knaben vorstellen, der beinahe taumelnd vor Entzücken durch die Gassen der Kalifenstadt schritt und die Moscheen besuchte.«9
Für den Schriftsteller, wie für seine Romanfigur war Konstantinopel nur ein Zwischenstopp auf dem Weg nach Paris, der »Hauptstadt der Welt«. Dort wohnte Essad Bey bei seinen reichen Verwandten mütterlicherseits „in einem großen Haus an den Champs Elysées“10 – dem Hotel Windsor11. In seinem letzten Manuskript beschrieb Essad Bey seine Streifzüge durch die Stadt und die in der Zeit gewonnenen Einblicke in das Leben der russischen Emigranten. Spätestens aus dieser Zeit (Lev war ca. 15 Jahre alt) müssen auch seine Einblicke in die Hochfinanz rund um das Erdöl stammen. Genau wie andere Ölquellenbesitzer konnte Abraham Nussimbaum nämlich noch die »toten Seelen«, d.h. die Besitzrechte an den heimischen Ölquellen, an Shell, Standard Oil und andere westliche Investoren verkaufen. Dies funktionierte, weil fast die gesamte westliche Welt daran glaubte, dass die Bolschewiken binnen eines Jahres wieder verschwunden wären. (Es führte dazu, dass keiner der exilierten Ölmillionäre daran dachte, sich finanziell einzuschränken, und manch einer arbeitete später als Taxifahrer.) Durch den Verkauf der „toten Seelen“ konnte Nussimbaum für sich und seinen Sohn noch eine ganze Weile den gewohnten Lebensstil aufrechterhalten.12
1921 ließen sich Vater und Sohn Nussimbaum in Berlin nieder. Dort ging ihnen bald das Geld aus und sie lernten nicht nur den Hunger, sondern auch wütende, ihre Miete einfordernde Hausherren kennen. Das daraus entstandene tiefe Gefühl der Entwurzelung und Verzweiflung scheint durch, wenn Essad Bey in Liebe und Erdöl schreibt: »Man sagt, das Brot der Vertriebenen sei bitter. Das stimmt nicht. Das Brot der Vertriebenen ist weder bitter noch süß, denn das Exil hat den Vertriebenen gar kein Brot zu bieten.«13
Prinzessin Tamaras Schicksal erfährt durch die Hochzeit mit einem Erdöl-Industriellen eine mehr oder weniger glückliche Wendung. In Essad Beys Leben steht das Erdöl für Reichtum, Verlust und schließlich für das Überleben: Ab 1930, mit dem Erfolg seiner Autobiografie Öl und Blut im Orient, der in den folgenden acht Jahren noch mindestens fünfzehn weitere international erfolgreiche Bücher folgen sollten, wendete sich sein Schicksal wieder zum Guten. Noch vor den beiden Heftromanen erschien 1933 Flüssiges Gold – Ein Kampf um die Macht. Interessanterweise war es bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 eines seiner erfolgreichsten.14 Das Erdöl und Essad Bey blieben gewissermaßen einander treu. Wenn man sich die Veröffentlichungsjahre und die Motive von Flüssiges Gold und Liebe und Erdöl betrachtet, ist leicht zu erkennen, dass Essad Bey für seinen Heftroman auf das Erdöl-Buch zurückgegriffen hat.
Essad Beys Heimweh nach dem Kaukasus scheint durch in Prinzessin Tamaras Visionen von ihrer grünen georgischen Heimat (S. 16 u. 36). Es kann davon ausgegangen werden, dass Essad Bey bereits in seiner Kindheit Georgien gut kennengelernt hat.15 Sicher war er dem Land auch emotional verbunden, denn sein Vater, Abraham Nussimbaum, wurde 1873 in der georgischen Hauptstadt Tiflis geboren und hat dort im Oktober 1904 Levs Mutter Berta Slutzki geheiratet.
Doch nicht nur diese autobiografischen Details finden sich in Liebe und Erdöl, sondern auch Personen aus der Geschichte des Erdöls und ihre Machenschaften.
Essad Beys Romanfiguren Tamara Alaschidse, Sir Richard King und Petros Petrossian sind realen Figuren aus der Erdöl-Industrie nachempfunden. Tamaras Vorbild war Lydia Pawlowna, eine russisch-kaukasische Emigrantin (und wie die Romanfigur eine Generalstochter) und Ehefrau von Sir Henri Wilhelm August Deterding (1866–1933). Deterding war Vorbild für die Romanfigur Richard King. Er war der Mitbegründer und Hauptaktionär der Royal Dutch Shell und damals einer der reichsten Männer der Welt. Sechzig Prozent der kaukasischen Erdölvorkommen waren in seinem Besitz und wie in Essad Beys Roman lernte er seine Frau Lydia Pawlowna bei dem undurchsichtigen Finanzexperten Calouste Gulbenkian kennen, der die Vorlage für Petros Petrossian abgab.
Calouste Sarkis Gulbenkian (1869–1955), geboren und aufgewachsen in der Türkei, war ein armenischstämmiger Finanzexperte, Ölforscher und Kunstsammler, der sich im Laufe seiner Karriere als unumgänglicher Verhandlungspartner in der Ölindustrie etabliert und einen sagenhaften Reichtum erworben hatte. Zwischen 1915 und 1942 lebte er – wie die Romanfigur Petrossian – in Paris in einem Haus am Etoile. Und wie im Roman zerstritt sich Gulbenkian mit Deterding über die Frage des Sowjet-Öls und entfesselte gegen Shell die von Essad Bey erzählte Börsenintrige.16
Die Ähnlichkeiten zwischen Romanfigur Petrossian und Vorbild Gulbenkian sind nur schwach. Essad Bey schreibt Petrossian Züge zu, die von Rockefeller bekannt waren, zum Beispiel das tägliche Lesen von Bibel und Börsennotierungen.17Diesen Kniff mag Essad Bey angewendet haben, weil wahrscheinlich über Gulbenkian keine privaten Informationen bekannt waren.
In Liebe und Erdöl finden sich drei Sätze über Richard King, die weder erklärt werden, noch mit der Romanhandlung in Beziehung zu stehen scheinen:
»Richard King und die Falschmünzer« (Seite 34)
»Richard King war der einzige Mann auf der Welt, der es sich ohne negative Folgen erlauben konnte, seinen Namen in Verbindung mit Falschmünzern in Zeitungen zu lesen« (Seite 35)
»Richard dachte an die Falschmünzer, die man immer gleichzeitig mit seinem Namen erwähnte« (Seite 39)
Dies sind Anspielungen auf die Tscherwonzenfälscher-Prozesse, an denen Essad Bey als journalistischer Beobachter teilgenommen hatte. Während des Prozesses sagten die Hauptbeschuldigten Karumidse und Sadatieraschwili aus, Deterding habe die Vorbereitungen zum Geldfälschen finanziert. Deterding war einer der reichsten Menschen zu seiner Zeit und als glühender Anti-Bolschewist bekannt. Es wäre in seinem Interesse gewesen, die Sowjetregierung fallen zu sehen, die zwischen ihm und seinen kaukasischen Ölquellen stand. Deterding stritt jedoch alle Vorwürfe ab. Außer einigen Begegnungen mit den Fälschern konnte ihm nichts nachgewiesen werden.
Diese drei mit dem restlichen Text unverbundenen Sätze sind sicher durch Essad Beys schnelle Arbeitsweise entstanden und anscheinend auch dem damaligen polnischen Übersetzer entgangen.
Das reale Vorbild für King, Deterding, war in der Tat Holländer und wurde 1920 für seinen Beitrag zu den Englisch-Niederländischen Beziehungen ehrenhalber zum Ritter des Britischen Empire geschlagen. Den Hauptsitz der Gesellschaft verlegte er bewusst nach London, um im Konkurrenzkampf (vor allem mit Rockefellers Standard Oil) die Rückendeckung des britischen Militärs zu haben.18
Nebenbei sei noch bemerkt, dass Deterding ein Freund der Nationalsozialisten in Deutschland war (vielleicht, weil sie ebenfalls Gegner der Bolschewiken waren?) und der NSDAP viele Millionen aus seinem Privatvermögen spendete: allein 1937 angeblich 40 Millionen Reichsmark für die Winternothilfe. Er besaß auch ein Rittergut in Mecklenburg. Zu seiner Beerdigung 1939 sandte Hitler einen Prunk-Kranz.19
* * *
Im Gesamtwerk von Essad Bey nehmen diese beiden Heftromane sicher eine Sonderstellung ein. Doch mit ihren historischen Bezügen, der charakteristischen Art der Personenzeichnung und der dichten, abenteuerlichen Handlung tragen sie eindeutig Essad Beys Handschrift. Das macht diese beiden kleinen »Zufallsfunde« nicht nur für Essad-Bey-Liebhaber zu einer lohnenden Entdeckung.
1 Dieser Aufsatz erschien zum ersten Mal in: Liebe und Erdöl und Manuela, Freiburg 2008, ISBN 978-3-929345-35-3. Für diese Online-Ausgabe wurde er überarbeitet und erweitert.
2 Frucht schrieb diese Erinnerungen über 50 Jahre später auf: Karl Frucht, Verlustanzeige: Ein Überlebensbericht, Wien 1992, S. 113
3 Betty Blair in ihrer Publikation Azerbaijan International, Los Angeles 2011, Seiten 313, 331, 356
4 Die Geschichte von Alves dos Reis ist Thema von: Thomas Gifford, Escudo, Bergisch Gladbach 2005, und Murray T. Bloom, Der Mann, der Portugal stahl, Wien 1967 und Reinbek 1973. Das deutsche Fernsehen dramatisierte 1970 das letztgenannte Werk für den Thriller Millionen nach Maß, in dem Curd Jürgens die Hauptrolle spielt. (DVD im Handel erhältlich.)
5 Michael Sayers und Albert Kahn: Die große Verschwörung – Darstellung des antikommunistischen Kampfes 1919–1945; Quelle: www.stalinwerke.de/verschw/verschw.pdf
6 In seinem Buch Das weiße Russland (Leipzig 1932 und 1991) widmet E.B. diesem Skandal das Kapitel »Die georgischen Falschmünzer«.
Der Schriftsteller Robert Neumann hat diesen Stoff in seinem Roman Die Macht, Berlin 1932 und München 1964, verarbeitet. Es ist überliefert, dass sich Essad Bey und Robert Neumann sich in Wien gekannt haben. Allerdings ist fraglich, welche Schlüsse aus dieser Tatsache allein gezogen werden können.
Artikel von 2012 auf spiegel.de: „Legendäre Falschgeld-Affäre – Der Schein des Anstoßes“,. Suchbegriff: „legendäre falschgeld-affäre“ oder: http://www.spiegel.de/einestages/legendaere-falschgeld-affaere-der-schein-des-anstosses-a-947488.html
7 Zitiert aus: Essad Bey, Öl und Blut im Orient, Freiburg 2008, Seite 10f.
8 Öl und Blut im Orient, Freiburg 2008, Seite 261
9 Kurban Said: Der Mann, der nichts von der Liebe verstand, unveröffentlichtes Manuskript, entstanden ab 1940
10 Der Mann, der nichts von der Liebe verstand, verfasst ab 1940
11 Mitteilung von Essad Beys Cousin ersten Grades, M. Naoum Hermont, Paris
12 Siehe auch: Essad Bey: Das weiße Russland, Leipzig 1991, Kapitel »Die toten Seelen«, Seiten 71–75
13 Essad Bey: Liebe und Erdöl, Freiburg 2008, Seite 13; weitere autobiografische Erlebnisse aus dieser Zeit verarbeitete Essad Bey in seinem unter „Kurban Said“ veröffentlichten Roman Das Mädchen vom Goldenen Horn. Siehe dort das Essay von Behrang Samsami (in der Ausgabe Frankfurt 2009).
14 Flüssiges Gold erschien in Berlin bei Etthofen und in Zürich bei Rascher. Rascher brachte 1937 eine erweiterte Neuauflage heraus, in deren Impressum die Angabe »10. bis 12. Tausend« zu finden ist.
15 Siehe Öl und Blut im Orient und 12 Geheimnisse im Kaukasus, beide Freiburg 2008
16 Essad Bey, Flüssiges Gold
17 ebd.
18 ebd.
19 Essad Bey, Das weiße Russland, 1932; Essad Bey, Flüssiges Gold, 1937; Andreas Dornheim, Röhms Mann fürs Ausland, Münster 1998; Wikipedia-Eintrag zu Deterding und Gulbenkian